Im Spätsommer 2002 zog ich Zuhause aus und gründete mit einem Freund eine Wohngemeinschaft in der damals schon maroden Itzehoer Schützenstraße. Zwei Jahre lang lebten wir dort, hörten laute Musik in der Regel laut und feierten bisweilen noch lauter. Rund elf Jahre später befindet sich mein Arbeitsplatz knapp 400 Meter von meiner ersten eigenen Bude entfernt und als ich eines Morgens meine Pausenverpflegung auf dem heimischen Küchentisch vergaß, passierte ich auf dem Weg zum nächsten Bäcker die Schützenstraße. Diese lud mit ihrem maroden Charme förmlich dazu ein, bald dort zu fotografieren. Einige Tage danach war ich mit meinem Modell Jana dort und ein Jahr später, im Februar 2014, erneut, um dieses Viertel in diesem Zustand fotografisch zu festzuhalten. Dazu nutzte ich eine alte Sucherkamera und einen 1994 abgelaufenen Kleinbildfilm, der einen gelben Schleier über die Bilder legen und so das Flair des Vergangenen darstellen sollte. Die ursprüngliche Perspektive am oberen Ende der Schützenstraße (Ecke Kasernenstraße) war jedoch nicht mehr zugänglich, die Straßenbeläge wurden gerade erneuert. Also ging ich ans untere Ende (Ecke Moltkestraße) und fotografierte von dort, direkt vor meinem ehemaligen Wohnhaus (Schützenstraße 1, erstes Haus links).
Rund drei Wochen später, der Film war noch in der Entwicklung, wackelten auf der Arbeit gegen 10.00 Uhr morgens kräftig die Wände. Zunächst schaute ich mich um, ob nicht eine_r der Schüler_innen in einem Wutausbruch aus dem Raum gerannt war, diese erledigten jedoch konzentriert ihre Aufgaben. Circa eine halbe Stunde später erschien mein Arbeitgeber im Raum und fragte die Schüler_innen, ob jemand in Schützenstraße und Umgebung wohne, da dort ein Haus zu Schaden gekommen sei. Diese Frage wurde von allen Schüler_innen meiner Gruppe verneint. Gegen Mittag tauchten erste Fotos von der Unglückstelle im Internet auf. Unser ehemaliges Nachbarhaus (Schützenstraße 3, zweites Haus links), das ich morgens und abends beim Rollohoch- und -runterziehen sah, ist in Folge einer Gasexplosion in Schutt und Asche gelegt worden. Vier Menschen verloren dabei ihr Leben, viele weitere in den umliegenden, teils schwer beschädigten Häusern dauerhaft ihre Bleibe, auch mein Kurs zeigte sich bewegt und setzte sich mit diesem Thema auseinander.
Edit: Die Schützenstraße 1 wurde (Stand: Ende Juli 2014) mittlerweile abgerissen. Kurz darauf wurde bekannt, dass bei einer Überarbeitung des Katasters in den 1970er (!) Jahren offenbar eine Gasleitung nicht übertragen wurde. Soll heißen, dass die Anwohner auch bei einer früheren Sanierung der Schützenstraße bereits höchster Lebensgefahr ausgesetzt gewesen wären…
Kamera: Canon AF35M
Film: Kodak Gold II 200 (exp. 10/1994)
Februar 2014, © Jan Meifert, alle Rechte vorbehalten.
im Sommer 2014 ausgestellt in der Freien Kunstschule Hamburg